Neunhundertneunzwanzig Kilometer nordwärts

Eine ungewöhnliche Reise zur Mündung des Amur

von Tim Gerber

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Eigentlich müsste jetzt eine Blaskapelle spielen. Denn ein ganz alltägliches Ereignis ist es nicht, wenn ein Flusskreuzer wie die "Wassillij Pojarkow" zur großen Fahrt über den Amur aufbricht. Und wirklich haben sich zahlreiche Schaulustige versammelt, die winkend am Ufer neben dem Retschnoj Woksal, dem "Flussbahnhof", stehen. Doch eine Blaskapelle ist nicht dabei. So legt der Funker eine Kassette ein, wenn Kapitän Wiktor Petrowitsch den Befehl zum Ablegen gibt, und die Marschmusik dröhnt blechern aus den Schiffslautsprechern.

Meist liegt der der "Flussbahnhof " von Chabarowsk verlassen auf seinem Ponton.
Einen solchen Menschenauflauf gibt es am Hafen der Stadt Chabarowsk im Fernen Osten Russlands sonnst nur an den Wochenenden, wenn Tausende mit den kleinen Fähren vom Typ "Moskwa" zu ihren Datschen auf den zahlreichen Inseln gegenüber der Stadt aufbrechen. Wochentags liegt das alte Holzgebäude der Anlegestelle verlassen auf seinem Ponton bei Flusskilometer 929 an der Mündung des Ussuri in den Amur. Ziel der Reise ist die Boje mit der Nummer Null, die Mündung in den Pazifik.

Über 3000 Kilometer hat der Fluss, von Westen kommend, bereits hinter sich gelassen. Die meiste Zeit seines Weges ist er Grenzfluss, trennt Russland und China. An dieser Stelle nimmt er einen weiten Bogen nach Norden, auf den letzten tausend Kilometern zum Pazifik sind beide seiner sumpfigen, weit ausladenden Ufer russisch. Die "Wassilij Pojarkow" befährt als eines der letzten beiden Passagierschiffe den Unterlauf zwischen Chabarowsk an der chinesischen Grenze und der Mündung bei Nikolajewsk-na-Amure.

Am Nachmittag, wenige Stunden nach der Abreise, gerät die "Wassilij Pojarkow" in ein schweres Gewitter. Die Ufer des hier mehrere Kilometer breiten Hauptstromes sind im Regen kaum mehr zu erkennen. Auf der Brücke wird es hektisch. Mit Ferngläsern suchen die Männer das Wasser nach Bojen und Navigationszeichen ab, die den Weg der Fahrrinne zwischen Sandbänken und Untiefen markieren. Die Lichter der Leuchtbojen sind seit Jahren erloschen und niemand repariert sie.

Der launische Fluss Amur verändert sich ständig, Inseln verschwinden, Fahrrinnen versanden.
Der Blick des Kapitäns wechselt zwischen dem grünlichen Radarschirm, der Echolotanzeige und seinen Flusskarten. Die stimmen längst nicht mehr, sind seit Jahren nicht amtlich aktualisiert worden. Der launische Fluss verändert sich ständig, Inseln verschwinden oder entstehen, Fahrrinnen versanden. Also müssen die Männer der "Pojarkow" ihre Karten selbst korrigieren. "Die Namen sämtlicher Freunde und Verwandter habe ich schon für neue Inseln vergeben", sagt Kapitän Wiktor Petrowitsch, "langsam fallen mir keine mehr ein."

Abendlicher Schichtwechsel auf der Brücke. In Reih und Glied treten die Matrosen und Schiffsjungen auf der Brücke an. Der Kapitän mustert die Reihe, lässt sich vom Stand der Arbeiten berichten und erteilt neuerliche Anweisungen. Das Schiff will instand gehalten sein, entrostet, gestrichen, geputzt werden. Viele Stunden verbringen die Matrosen an Deck, kratzen und schaben mit Glasscherben den alten Lack vom Holzbelag der Reling, um ihn anschließend frisch versiegeln zu können. Was wie Beschäftigungstherapie anmuten mag, ist reine Überlebensnotwendigkeit: Die Frauen und Männer der Besatzung leben auf dem Schiff und leben von ihm.

Nachts will man wegen der fehlenden Leuchtbojen nicht fahren, also wirft man Anker mitten auf dem Fluss. Wenige Minuten später stehen der Kapitän und drei seiner Offiziere am Heck der "Pojarkow", wo ein kleines Motorboot zu Wasser gelassen wird. Die Männer wollen mal wieder zum Fischen. In einem Nebenarm legen sie Netze aus, die sie im Morgengrauen wieder herein holen - leer.

"Eto perestrojka!" - "Das ist die Umgestaltung!" ruft Wiktor Petrowitsch über die Brücke. Kopfschüttelnd blickt der erfahrene Amurkapitän auf die verfallenen Hafenanlagen von Komsomolsk, der Stadt der Jugend. Warum musste ausgerechnet die Amur-Schifffahrt privatisiert werden? Die Eisenbahn, die die einstige Industriestadt mit dem Vorderland verbindet, sei schließlich auch nicht privatisiert. Dabei wäre der Transport auf dem Fluss mit nur sechs Kopeken, etwa einem halben Pfennig, pro Tonne und Kilometer unschlagbar billig. Wegen der Privatisierung habe man mehr als die Hälfte aller Schiffe verschrotten oder verkaufen müssen. Das ferne Moskau erhebt hohe Steuern für jedes Schiff, die man nicht erwirtschaften kann.

Die ärgsten Feinde der Fischbestände im Amur sind ihre staatlichen Bewacher.
Seine "Wassilij Pojarkow" hat Wiktor Petrowitsch gerade noch vor dem Trennschleifer retten können, indem er das Ausbleiben der Touristen mit schwimmenden Kinderferienlagern ausglich. Die gelten als soziale Einrichtungen, das mildert Moskaus Steuerbegehrlichkeiten. So kreuzen die "Wassilli Pojarkow" und ihr Schwesternschiff "Amur-Stern" während der Schulferien mit je 130 Kindern nebst Betreuern den Amur auf und ab. Außerhalb der Ferien gibt es nur Wochenendkreuzfahrten für die neureichen "neuen Russen", die sich zur Abwechslung mal auf dem Amur besaufen wollen. Für normalsterbliche Russen sind solche Touren nicht erschwinglich und ausländische Touristen kommen so gut wie nie in diese gottverlassene Gegend acht Flugstunden östlich von Moskau.

Mit Komsomolsk liegt die letzte größere Stadt nun gut hundert Kilometer hinter uns. Der Kapitän muss die sonst üblichen Kontrollen durch die Reederei nun nicht mehr fürchten. Dafür kommen nun die örtlichen Staatsorgane des Dörfchens Zimmermanowka zu Besuch: Der örtliche Fischereiinspektor mit seinem Begleitschutz, einem jungen Milizionär vom MWD, dem Innenministerium. Wiktor Petrowitsch begrüßt sie freundlich, doch in Wahrheit hält der diese Männer für Banditen. Doch gegen ihren Freundschaftsbesuch kann er sich nicht wehren. Er wird eingeladen, auf eine ihrer "Inspektionsfahrten" auf dem Fluss mitzukommen, hat allerdings für die Getränke zu sorgen. Vormittags begnügen sich die Staatsorgane noch mit einer anderthalb-Liter-Plastikflasche "Amur-Piwo", dem ortsüblichen Bier aus Schiffsbeständen - abends muss es dann schon Wodka sein.

In schneller Fahrt im Motorboot, angetrieben vom 70-PS-Motor eines "Wolga" geht es schnurstracks zum nächsten Fischerboot. Doch die Staatsorgane haben Pech: Der Fischer hat nichts im Netz und ist obendrein im Besitz einer Lizenz. Die sind nur gegen viel Geld zu bekommen, das bei den meisten sehr knapp ist. So müssen die Fischer oft ohne das Papier überleben. Der Fischereiinspektor lebt um so besser. Er muss lediglich denen ohne Lizenz ihren Fang abnehmen und ihn auf dem Markt zu Geld oder Wodka machen. Ein Überlebenskampf für die Fischer, bei dem schon mal die Kalaschnikow des MWD zum Einsatz kommt. Verlierer aber ist in jedem Falle der Kaluga, der einzigartige Amur-Stör. Die Population des größten Süßwasserfisches der Welt ist beständig im Rückgang - ärgster Feind sind seine staatlichen Beschützer.

Abends kommen die Offiziere der Wassilij Pojarkow beim Kapitän zusammen zum gemeinsamen Essen und Trinken.

Die ist Wiktor Petrowitsch fürs erste wieder los geworden. Jetzt kann seine Mannschaft ungestört abends in der Kapitänskajüte zusammen kommen, gebackenen Fisch essen und den unvermeidlichen Wodka trinken. Der Hausherr schenkt ein und prostet dem bärtigen Namenspatron seines Schiffes zu, der von einem alten Ölgemälde in die Runde blickt: "Sa Ljubow!" - "Auf die Liebe!" Neben ihm sitzt seine Freundin Natascha. Zu Hause hat sie einen arbeitslosen Mann und zwei Kinder. Um alle drei ernähren zu können, arbeitet Natascha den ganzen Sommer über ohne Unterbrechung auf dem Schiff, kocht, wäscht ab, putzt - und liebt den Kapitän. Zwölf Stunden schuftet sie täglich. Das reicht eben, um Wohnung und Essen bezahlen zu können. Doch wie lange es den Job auf dem Schiff noch geben wird, weiß nicht mal ihr Kapitän.

"Ich bin Kommunist!", ruft der trotzig. Wie zum Beweis holt er ein altes Lenin-Buch aus dem Schreibtisch und zitiert: "Kommunisten wird man immer auf die schwersten Posten stellen, wo der Kampf am härtesten ist." Sein Posten ist auf der Brücke der "Pojarkow". Ein Leben lang hat er den Fluss befahren, etwas anderes ist für den schnauzbärtigen Kosakensohn undenkbar.

Was aber tun den Rest der Saison, wenn die Ferien vorbei sind? Und wird es im nächsten Jahr wieder Ferienlager geben? Mit diesen Fragen dreht Walerij Wassiljewitsch, der Erste Offizier, sein leeres Wodkaglas in den Händen, als suche er darin eine Antwort: "Vielleicht sollte ich mich freiwillig in den nächstbesten Krieg melden. Da weiß ich, was mich erwartet - ich war schon in Afghanistan."

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